Warum Ernährungskontrolle zu Übergewicht führen kann
Ihr fragt euch bestimmt, was Ernährungskontrolle eigentlich genau bedeutet. Und wie immer ist hier die Antwort nicht ganz einfach: Manche Eltern achten zum Beispiel darauf, dass ihr Kind nicht zu viel oder zu wenig von bestimmten Lebensmitteln isst. Kinder werden beispielsweise während des Essens ermahnt sich nicht noch einen Nachschlag zu nehmen. Andere Kinder werden dagegen gebeten noch mehr von dem vermeintlich gesunden Lebensmittel zu essen. Oder zu probieren.
“Vertrauen ist gut, Kontrolle noch besser!”
In manchen Bereichen mag das vermutlich stimmen, nur bei der Ernährung meiner Meinung nach auf keinen Fall. Denn Kontrolle beim Essen kann sich in vielerlei Hinsicht negativ auswirken.
Äußere Beeinflussung
Stellt euch mal vor ihr sitzt am Esstisch und jemand redet auf euch ein, doch bitte noch etwas mehr oder aber weniger von etwas zu essen. Wie fühlt ihr euch?
Gestresst? Verunsichert? Bevormundet?
In jedem Fall ist dies keine Situation, in der wir unbeschwert Essen genießen und dabei auf eigene Bedürfnisse hören. Wenn Kinder bei gemeinsamen Mahlzeiten gut gemeinte Ratschläge bekommen, bestimmen diese bewusst oder unbewusst ihre Auswahl an Lebensmitteln und ihre Nahrungsaufnahme. Auf das eigene Hunger- und Sättigungsgefühl zu hören, wenn man gleichzeitig versuchen muss es anderen Recht zu machen, wird erschwert.
An dieser Stelle ist es mal wieder Zeit für etwas Klugscheißerwissen, um unter Eltern damit angeben zu können. Und das geht immer am besten, wenn man die passenden Studien parat hat:
Elterliche Einschränkung geht oft nach hinten los
Die Fähigkeit Hunger und Sättigung zu spüren ist allerdings essentiell, um Übergewicht auch in späteren Jahren zu verhindern. Wenn wir auf etwas Verzichten, wird das “Verbotene” in der Regel interessanter. In schwachen Momenten holen wir uns dann genau diese Leckerein, um uns etwas Gutes zu tun. Viele kennen dieses Phänomen von einer Diät. Wenn wir uns lange bestimmte Lebensmittel verbieten, hauen wir diese in stressigen Situationen so richtig rein. Herman und seine Kollegen konnten dies in einer Studie belegen. Und noch mehr: Menschen, die ständig auf Diät sind, tendieren eher dazu sich zu überessen in stressigen Momenten1. Hilde Bruch beschreibt weiterhin, dass Kinder, die von ihren Eltern zur Zurückhaltung beim Essen erzogen wurden, oft lebenslang mit Übergewicht zu kämpfen haben2.
“Let them eat easter eggs”
fasst die Studienergebnisse der Forschergruppe um Ogden gut zusammen. In ihrer Untersuchung wurden 86 Eltern in zwei Gruppen eingeteilt und gebeten, ihren Kindern den Zugang zu Schokoladeneiern einzuschränken oder sie essen zu lassen, wie viel sie wollten. Sie fanden heraus, dass Kinder, die uneingeschränkten Zugang zu den Eiern hatten, anfangs die größte Nachfrage zeigten und mehr der Naschereien aßen. Am Ende des Untersuchungszeitraums zeigte sich jedoch, dass diese Kinder kaum mehr Interesse an den Süßigkeiten hatten. Die Kinder jedoch deren Schokolade rationiert wurde das größere Verlangen aufzeigten und deutlich größere Mengen aßen3. Durch die Einschränkung des Lebensmittels wurde also genau das Verhalten gefördert, welches ursprünglich verhindert werden sollte.
“Iss doch noch etwas gesundes”
Manchmal wollen Eltern mit der Bitte noch etwas mehr Obst oder Gemüse zu essen ihren Kindern eine gesunde Ernährungsweise beibringen. Doch auch diese Form der Beeinflussung führt nicht immer zum gewünschten Effekt. Eine bislang noch nicht so bekannte Form einer Essstörung ist die Orthorexia nervosa. Sie umschreibt die extreme Beschäftigung mit als “gesund” wahrgenommenem Essen. Dass selbst kleine Kinder sich bereits übermäßig Gedanken um gesunde oder ungesunde Lebensmittel machen, konnte ich im Freundeskreis meines Ältesten feststellen. So beobachtete ich einmal die Situation, dass ein Kind nichts vom Grill essen wollte auf dem vorher Fleisch gelegen hatte. Das Kind erklärte “Fleisch ist ungesund und deswegen esse ich das nicht”. Wohlgemerkt ist mein großer Sohn gerade einmal 5 Jahre alt und seine Freunde sind in einem ähnlichen Alter. Eine gesunde Lebensweise zu führen ist natürlich nicht zwingend eine Essstörung. Entscheidend ist, ob das Vermeiden von eigens definierten “ungesunden” Lebensmitteln zu einer Zwanghaftigkeit führt und die Betroffenen in ihrer Essensauswahl stark einschränkt. Eine Übersicht wie viele Kinder und Jugendliche von dieser psychischen Erkrankung betroffen sind, gibt es derzeit noch nicht. Zu vermuten ist aber, dass hier genauso wie bei Anorexia nervosa (Magersucht) oder Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht) die Häufigkeit eher zu als abnimmt.
Verbreitung von Essstörungen
Wesentlich mehr Jugendliche leiden an einem gestörten Essverhalten als mancher glaubt. So sind laut dem RKI etwa ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen im Alter von 11-17 Jahren betroffen. Dabei erkranken Mädchen in etwa doppelt so häufig wie Jungen4.
Wichtig zu erwähnen an dieser Stelle ist, dass Essstörungen nicht nur die eine Ursache haben. Es spielen immer mehrere Faktoren für deren Entstehung eine Rolle. Darunter fallen sowohl biologische, soziokulturelle, familiäre als auch individuelle Ursachen. Es ist also nicht so, dass gut gemeinte Ratschläge zwingend zu einer Essstörung führen. Wir können unsere Kinder aber unterstützen ein gesundes Essverhalten beizubehalten oder wieder zu erlernen sowie eine positive Körperwahrnehmung zu entwickeln.
Literatur
- Herman C. P. et al. Restrained and unrestrained eating. J Pers. 1975 Dec;43(4):647-60. doi: 10.1111/j.1467-6494.1975.tb00727.x. Eingesehen am 9.9.2021 unter https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/j.1467-6494.1975.tb00727.x?sid=nlm%3Apubmed
- Hilde Bruch. Eating Disorders: Obesity, Anorexia Nervosa and the Person within. Routledge & Kegan Paul PLC (1. Dezember 1973)
- Ogden J. et al. Parental restriction and children’s diets. The chocolate coin and Easter egg experiments. Appetite. Volume 61, 1 February 2013, p- 36-44. Eingesehen am 9.9.2021 unter: https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0195666312004370
- https://www.rki.de › GPA_Daten › Essverhalten